Stressmedizin
Was ist Stressmedizin?
Die Stressmedizin beschäftigt sich mit den Ursachen und Hintergründen sowie mit den psychischen und körperlichen Folgen von chronischem Stress, in geringerem Umfang auch von akutem, übermäßigem, traumatisch wirkendem Stress. Die Forschungsergebnisse der Stress- und Hirnforschung zeigen, dass Stress – und hierbei insbesondere der chronische – die Hauptursache einer großen Zahl von typischen Zivilisation- Erkrankungen ist und letztendlich nicht nur die Lebensqualität reduziert sondern auch die Lebenserwartung als solche. Dabei ist Stress nicht nur das Gefühl von Zeit- und Leistungsdruck, sondern all das, was unseren Organismus übermäßig belastet und von uns als (existentiell) bedrohlich und nicht kompensierbar erfahren wird. Die Wahrnehmung und Bewertung der Gegebenheiten sowie die Fähigkeit damit umzugehen (Resilienz) spielen hier eine entscheidende Rolle.
Was sind die Ursachen für Stress?
Die Ursachen für Stress sind sehr individuell. Was den einen in Alarmbereitschaft versetzt und erheblich belastet, lässt den anderen völlig kalt. Ausschlaggebend ist – wie oben erwähnt – unsere Bewertung. Hier spielen zentrale Stukturen unseres Zwischenhirns eine entscheidende Rolle, die kontinuierlich wie ein Filter wirken, der jegliche Art von Reizen analysiert und wertet. Ist die Situation bedrohlich oder nicht und kann sie bewältigt werden oder sind wir ihr ausgeliefert und „in Gefahr“? Ausserdem gibt es nicht nur die psycho-mentalen Stressoren in unserem Leben, sondern auch sozio-ökonomische, physikalische, biologische und chemische Triggerfaktoren.
Typische chronische Stressoren unseres Lebens sind:
- Termin- und Zeitdruck
- Fehlende Freizeit und Erholungsmöglichkeiten
- Überforderung, Übertraining
- Existenz- und Geldsorgen
- Einsamkeit, fehlende Liebe und Wertschätzung durch andere
- Psychische und körperliche Gewalt
- Selbstwertstörungen, Selbstüberforderung, Perfektionismus
- Persönlichkeitsmerkmale wie Hochsensibilität, Hyperaktivität und Impulskontrollstörungen
- Chemikalien, Umweltgifte, (nicht erkannte) Allergene
- Ungünstiges Essverhalten und Konsumverhalten
- Unterschwellige Entzündungen im Körper
Davon abzugrenzen sind akute, oft maximale Stressoren, wie
- Eine schwere eigene Erkrankung oder die eines Anghörigen
- Tod / Verlust eines nahestehenden Menschen
- Partnerschaftskonflikte und Trennung
- Sonstige akute Lebenskrisen
- Unfall oder akutes physisches oder psychologisches Trauma,
Misshandlung, Missbrauch, etc.
Hier kann der Stressmediziner ebenfalls hilfreich sein, geht in der Regel aber zunächst anders vor als beim chronischen Stress. Dennoch können solche Akutstressoren in eine chronische Stresserkrankung münden, wenn sie nicht ausreichend bewältigt und teilweise ein ganzen Leben lang mitgeschleppt werden.
Was geschieht im Körper bei Stress?
Über das Nerven- und Hormonsystem wird der Organismus bei Stresseinwirkung in einen Alarmzustand versetzt. Diese dann ablaufenden Reaktionen sind bei akuten Belastungen sinnvoll und lebensnotwendig da der Organismus so auf einen Kampf oder eine Flucht vorbereitetet wird („Fight or Flight“). Problematisch wird die Stressreaktion bei dauerhafter Aktivierung. Hierbei bleibt das ganze System kontinuierlich “hochgefahren”, die notwendigen Phasen der Entspannung und Regeneration fehlen.
Patienten mit chronischem Stress berichten zunächst von
- Innerer Unruhe, Zittern, Herzklopfen
- dem ständigen Gefühl, unter Strom zu stehen
- Nicht-abschalten-können, Gedankenkreisen
- Muskelverspannungen, Kopfschmerzen
- Nebel im Kopf, Schwindel
- Schlafstörungen
- Reizbarkeit, Angst- und Panikattacken
und entwickeln oftmals physische Folgebeschwerden wie/li
- Herz-Kreislaufprobleme, Bluthochdruck
- Verdauungsstörungen jeglicher Art, Übelkeit
- Konzentrations- und Gedächtnisprobleme
- Hormonstörungen
- Störungen des Immunsystems
Folge dieser anhaltenden Überspannung, in welcher der Organismus vergleichbar mit einem PKW ist, welcher dauerhaft im zweiten Gang über die Autobahn fährt, ist letztendlich ein Zusammenbruch der hormonellen und vegetativen Stressachse mit dem Gefühl der kompletten physischen und mentalen Erschöpfung. Dieser Zustand wird dann meist als “Burnout” bezeichnet, hat oftmals Ähnlichkeiten mit einer Depression, ist aber vom Ursprung und vom Charakter von ihr abzugrenzen (der depressive Patient könnte, hat aber kein Interesse und „will einfach nicht mehr“, der Stresspatient mit Burnout-Symptomatik will und hat an allem Interesse, kann physisch und mental aber einfach nicht mehr).
Diagnostik in der Stressmedizin?
Würde man unseren Organismus mit einem Computer vergleichen, so wäre unser Körper mit seinen Organen die Hardware und das vegetative Nervensystem zusammen mit den Neuro-Hormonen der sogenannten Neurostressachse (HPA-Achse) eine Software. Dieses Steuerprogramm läuft permanent im Hintergrund und regelt je nach Erfordernis alle Körperfunktionen und deren Zusammenspiel, ohne daß wir dies überhaupt wahrnehmen.
Chronischer Stress führt zu einer Fehlfunktion in dieser Software und sorgt für Fehlregulationen, welche letztendlich die Beschwerden der Betroffenen verursachen und welche man messen kann. So verändert Stress in unserem Gehirn und in den Nervenbahnen verschiedene Neuro-Botenstoffe wie Noradrenalin, Cortisol, Acetylcholin, Serotonin, Dopamin und GABA und führt auch zu veränderten Mustern der Regulation in unserem vegetativen Nervensystem mit einem Ungleichgewicht von Sympathikus und Parasympathikus.
So kann man mit verschiedenen Laboranalysen aus dem Blut, dem Urin oder dem Speichel diese Verschiebungen der Neurotransmitter messen und quantifizieren.
Das vegetative Nervensystem lässt sich sehr gut über die sogenannte Herzfrequenzvariabilität analysieren. Sowohl in speziellen Kurzzeittests vor Ort in der Praxis wie auch in einer 24stündigen Diagnostik, die einem Langzeit-EKG ähnelt, lassen sich spezifische Aussagen über vegetative Fehlsteuerungen und eine mögliche Überlastungsreaktion treffen.
Da oftmals eine chronische, unterschwellige Hyperventilation oder eine Fehlatmung (dysfunktionelle Atmung) bei Stresspatienten vorliegt, ist auch die Analyse der Atemgase und des Atmungsverhaltens hilfreich.
Dazu kommen weitere Testverfahren aus dem neuropsychologischen Bereich, in denen man sich ein Bild über die vorliegende Stress-Situation, über die Verhaltensmuster und über die vorhandenen Bewältigungsmöglichkeiten (Coping- Mechanismen) des Patienten macht.
All diese Ergebnisse führen dann wie ein Puzzle zu einem Bild, welche die individuell ausschlaggebenden Stressoren beim Patienten sind, zu welchen Veränderungen sie physisch und psychomental geführt haben, wie man diese behandeln kann und welche Potentiale für eine langfristige Stressbewältigung vorhanden sind.
Behandlung in der Stressmedizin
Stressprävention und Stressreduktion
Ideal ist es, wenn man rechtzeitig merkt, daß man sich auf dem Weg in eine „Stress-Karriere“ befindet. Wenn dem Betroffenen klar wird, daß er mit vorhandenen Situationen oder Gegebenheiten nicht ausreichend klar kommt und daß diese ihm so zusetzen, daß sie ihm letztendlich an die Substanz gehen, können gesundheitliche Folgen und eine echte Stresserkrankung vermieden werden.
Mit der richtigen Kombination von Maßnahmen zur Stressbewältigung und Stressreduktion kann eine bestehende Stressbelastung wirkungsvoll und nachhaltig gesenkt werden. Hierfür reichen aber oft die überall verfügbaren, schnellen Tipps nicht aus. Daher ist es in solch einem Fall wertvoll, gemeinsam mit einem Stressmediziner / Coach den Ist-Zustand zu definieren und ein gezieltes Programm zur Stressprävention zu erarbeiten.
Ein solches kann beispielsweise beinhalten:
- Ursachenanalyse und Bestimmung des Ist-Zustands
- Beseitigung / Bearbeitung offensichtlicher Stressoren (z.B. Schul-oder Arbeitsplatzwechsel bei Mobbing, Überdenken toxischer Beziehungen)
- Lebensstil-Analyse (förderliche und stressverstärkende Gewohnheiten)
- Ressourcenanalyse (Was gibt mir Kraft, entspannt mich?)
- Achtsamkeits- und Meditationstraining
- Erlernen von Entspannungsverfahren (z.B. Autogenes Training, progressive Muskelrelaxation nach Jacobson)
- Festlegung des passenden Pensums und der geeigneten Art von Bewegung (Laufen, Walking, Schwimmen oder aber sanftere Bewegungsverfahren wie Yoga, Tai Chi, Pilates)
- Atemtraining
Behandlung von Stresserkrankungen
Grundsätzlich sind alle Ansätze, welche in der Stressprävention und Stressreduktion zum tragen kommen, auch grundlegende Bestandteile der Behandlung eines bereits stresserkrankten Menschen.
Da er vermutlich aber schon die ersten körperlichen oder psychomentalen Symptome entwickelt hat, müssen die bereits messbaren Veränderungen in der Stressantwort zusätzlich korrigiert und ausgeglichen werden, um die vordergründigen Beschwerden des Patienten in den Griff zu bekommen. Ferner müssen die Maßnahmen und Empfehlungen zur Stressbewältigung weitreichender gestaltet werden und beinhalten oftmals auch verhaltenstherapeutische und psychodynamische Ansätze.
So kommen – je nach Erfordernis – in der Behandlung von Stresserkrankungen folgende Therapiemaßnahmen zum Einsatz:
- Korrektur der Neurotransmitterdysbalance mit Hilfe von
- phytotherapeutischen Präparaten und Aminosäure-Vorläufern der fehlenden Neurotransmitter, in extremen Fällen vorübergehend auch mit Psychopharmaka
- Korrektur der verschobenen Vegetativen Achse (meist chronische Sympathikotonie) / Biofeedback
- Atemtraining und Korrektur der oftmals dysfunktionalen Atmung
- Achtsamkeitstraining- und Meditationstraining
- Kognitive Umbewertung
- Klärung innerer und zwischenmenschlicher Konflikte
- Verbesserung von Emotionswahrnehmung und -steuerung
- Psychohygiene in Bezug auf Ruhephasen und Schlafverhalten
- Erlernen von Entspannungsverfahren (z.B. Autogenes Training, progressive Muskelrelaxation nach Jacobson)